Unter dem Titel „Ich zähle täglich meine Sorgen – Armut in Österreich“ wurde Ende September auf Einladung des Armutsnetzwerks OÖ die überarbeitete Auflage des Handbuchs Armut präsentiert. Neben der Herausgeberin und den Herausgebern Christa Stelzer-Orthofer, Nikolaus Dimmel und Martin Schenk saßen auch die Autoren Alfred Grausgruber und Harald Stöger (beide Uni Linz) am Podium. Rund 70 interessierte Besucherinnen und Besucher waren in den Wissenstrum in Linz gekommen.
Mit einem politischen Statement eröffnete der Sozialexperte Martin Schenk die Reihe der Vorträge.
„Wie eine Gesellschaft mit armen und ausgegrenzten Menschen umgeht, das ist ein Seismograph für den Zustand einer Gesellschaft“, sagte Schenk. Armutsgefährdete Menschen haben keine Lobby und keine Stimme, sie würden ein Gefühl der Beschämung spüren, „und Beschämung ist eine Waffe, um die Leute unten zu halten.“
Auch Nikolaus Dimmel ging auf das Thema Scham ein. Ganz viele Menschen – Dimmel nennt eine Dunkelziffer von 70 bis 100 Prozent – würden Leistungen des Wohlfahrtsstaates wie Sozialhilfe oder bedarfsorientierte Mindestsicherung nicht in Anspruch nehmen. Eine der Ursachen dafür sei, dass sich die Menschen schämten und ihr Leben offen legen müssten. Weitere Gründe sind laut Dimmel fehlende Rechtskenntnis (40-70 Prozent haben keine Ahnung worauf sie Anspruch haben), die Angst vor Stigmatisierung und ein gewisser Repressionscharakter. „Bei der Sozialhilfe geht es nicht um Hilfe, sondern um Kontrolle“, sagt Dimmel.
Dem Thema „Gesellschaftliche Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat“ widmete sich Alfred Grausgruber. Einig sind sich die Österreicherinnen und Österreicher (90 Prozent), dass Armut ein Thema sei, dessen sich die Politik annehmen müsse. Weniger Einigkeit indes herrscht dann, wenn die Frage gestellt wird, wer in den Genuss der Leistungen des Wohlfahrtsstaates kommen solle. „Je differenzierter man die Zielgruppen herausarbeitet, desto mehr schwindet die Bereitschaft zur Unterstützung“, sagt Grausgruber. Das beginne schon bei der Konfliktlinie zwischen Jung und Alt und setze sich fort bei der Frage, ob Zugezogene genau so viel an sozialstaatlichen Leistungen erhalten sollen wie die angestammte Bevölkerung.
Harald Stöger ging in seinem Beitrag auf die Armutsfalle Wohnen ein. Bis in die 1980er Jahre sei Wohnen dank staatlicher Lenkungsmaßnahmen leistbar gewesen, ab dann habe sich sukzessive ein eher marktorientiertes Modell durchgesetzt. Dadurch kam es zu einer Deregulierung der Mieten im privaten Sektor, wodurch die Mietpreise gestiegen seien. In den 1990er Jahren habe der Staat kontinuierlich die Wohnbauförderung reduziert, um die Maastricht-Kriterien der EU erfüllen zu können. Die Folge war, dass es weniger Neubauten gab, was ebenfalls die Mietpreise in die Höhe trieb. „Insgesamt wird die soziale Verwundbarkeit auf dem Wohnungsmarkt größer“, resümiert Stöger.
Am Ende skizzierte Christa Stelzer-Orthofer eine notwendige Strategie in der Armutspolitik. Dazu gehören die Humanisierung der Rechtsgrundlagen in den Bundesländern, ein universeller Zugang zum Thema Armut, der Ausbau sozialer Dienstleistungen und existenzsichernde Grundlagen. Seit mehr als 20 Jahren verfolge sie nun die Entwicklung in der Armutsbekämpfung, seit 20 Jahren liegen die Zahlen am Tisch „und geändert hat sich praktisch nichts. Die Betroffenen sind heute die gleichen wie früher, und das macht mich traurig“.
Handbuch Armut.
Vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Das Buch beinhaltet 57 Beiträge von 62 Expertinnen und Experten und gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Armutsforschung in Österreich. Beschrieben werden Ursachen und Folgen der Armut, Instrumente der Armutsbekämpfung und die Herausforderungen der Sozialpolitik. Herausgeberin und Herausgeber sind Prof. Dr. Christine Stelzer-Orthofer (Johannes-Kepler-Universität Linz), Prof. DDr. Nikolaus Dimmel (Universität Salzburg), und Mag. Martin Schenk (Sozialexperte der Diakonie, Mitbegründer der Armutskonferenz). 1004 Seiten, Studienverlag, 49,90 Euro.