Jetzt ist es also so weit: Das System Bedarfsorientierte Mindestsicherung ist durch unverantwortliche Unterstellungen und öffentliche Skandalisierungen ähnlich beschädigt wie das alte System der Sozialhilfe zu Spitzenzeiten der entwürdigenden Sozialschmarotzer-Debatte. Die Auseinandersetzung steht in keinem Verhältnis zu der realen finanziellen Bedeutung. Denn die Bedarfsorientierte Mindestsicherung nimmt mit nur 0,7 % einen winzigen Anteil bei Österreichs Gesamtsozialausgaben ein. ein Beitrag von Norbert Krammer, VertretungsNetz – Sachwalterschaft
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Die herbeigeredete finanzielle Krisenstimmung hat also andere Gründe.
Und Einsparungen in der Mindestsicherung wirken sich bei den Gesamtausgaben somit auch nur marginal aus.
Verunsicherung macht sich jedenfalls breit! Menschen mit Armutserfahrung geraten in die Defensive, können sich nun in einer Krisensituation nicht mehr uneingeschränkt auf die Unterstützung verlassen. Denn die Einsparungsideen werden immer umfassender. Zu Beginn nahmen konservative PolitikerInnen die Flucht der Menschen aus den Krisen- und Kriegsgebieten zum Anlass, die Anforderungen für Österreichs Sozialsystem mit der Terminologie der Katastrophenliteratur zu beschreiben: Von Flüchtlingsstrom war die Rede, die Flut an Kosten schwappte durch die Medien und Österreich wurde angeblich mit Hilfesuchenden überschwemmt. Gegen diese einseitige Darstellung meldete sich vielerorts qualifizierter und manchmal lauter Protest zu Wort. Vermutlich zu spät:
Die Bedarfsorientierte Mindestsicherung ist nun Spielball der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung und des parteipolitischen Ringens um WählerInnen-Stimmen.
Johann M. arbeitet die ganze Woche über in der Werkstatt einer Behinderteneinrichtung und bekommt statt eines Lohnes ein knappes Taschengeld. Der erste Arbeitsmarkt bleibt wegen fehlender inklusiver Angebote derzeit verschlossen, über eine kollektivvertragliche Entlohnung in allen Beschäftigungsprojekten wird schon lange, aber bisher erfolglos diskutiert. Bis zu einer Lösung benötigt Johann M. die Unterstützung der Mindestsicherung, um die laufenden Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Auch nach den ohnehin sehr strengen Zugangsbestimmungen – beispielsweise Einsatz der eigenen Arbeitskraft und aller Einkünfte – wird durch Bescheid der Bezirksverwaltungsbehörde Mindestsicherung gewährt, wobei das Taschengeld und eine Waisenpension vom Mindeststandard abgezogen werden. Die kleine Mietwohnung kann sich Johann M. damit weiter leisten und ein relativ eigenständiges Leben führen. Bisher. Denn er ist durch die Diskussion verunsichert. Er fragt oft nach, und seine Sachwalterin kann ihn meist nur kurz beruhigen. Verbindliche Sicherheit vermag niemand mehr zu vermitteln.
Auch für Sandra R. bleibt die Mindestsicherung als Ergänzung zu dem kleinen Gehalt aus der Arbeit in der Wäscherei die Basis, um Miete, Strom, Kleidung und Nahrungsmittel jeden Monat abzudecken. Die Lebenssituation hat sich trotz der Schulden stabilisiert und gemeinsam mit dem gerichtlich bestellten Sachwalter konnte die Alltagsbewältigung im finanziellen Bereich geordnet werden. Aufgrund dieses Erfolgs besteht mittelfristig der Plan, die Sachwalterschaft wieder zu beenden. Doch jetzt wächst die Verunsicherung durch die Debatten um Kürzung der Mindestsicherung. Hat ja objektiv nichts miteinander zu tun, die finanzielle Unterstützung durch die Mindestsicherung und die Bestellung eines Sachwalters. Stimmt natürlich, aber emotional ist es für manche LeistungsbezieherInnen besonders in einer instabilen Situation sehr belastend.
In Oberösterreich gibt es trotz verfassungsrechtlicher Bedenken und abschlägiger Expertise konkrete Pläne, die Bedarfsorientierte Mindestsicherung für asylberechtigte Menschen von € 914 auf € 520 zu kürzen, wobei hier sogar die Wohnkosten abgedeckt werden müssen. Diese Reduktion soll zukünftig auch subsidiär Schutzberechtigte treffen.
Damit nicht genug, wurde bereits mehrfach der Vorschlag gebracht, die Zugangsschranken zu erhöhen und zukünftig Mindestsicherung nur jenen Menschen zu gewähren, die vorher durch Erwerbsarbeit ihr Leben bestreiten konnten. Als oberflächliches Argument dient eine vereinfachte Darstellung: Nur jene, die in Österreich in das Sozialsystem eingezahlt haben, sollten eine Sozialleistung erwarten können. Dieser diskutierte Ausschluss mit Analogie zum Versicherungssystem trifft all jene Menschen, die auf Grund von Beeinträchtigungen nicht am ersten Arbeitsmarkt tätig sind und in keiner vollversorgenden Einrichtung, sondern in einer Wohnung oder Wohngemeinschaft leben und für die Lebenshaltungskosten finanzielle Unterstützung benötigen. Hier wird deutlich, wie wenig durchdacht die aktuellen Ausgrenzungsideen sind. Der Ausschluss von Menschen mit Beeinträchtigung ist darüber hinaus auch ein klarer Verstoß gegen die UN-Konvention zum Schutz von Menschen mit Behinderungen.
Einer der Gründe für die Einführung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung im Jahr 2010 war, dass die Stigmatisierung der Sozialhilfe beziehenden Menschen in finanziellen Notlagen beseitigt werden sollte. Die Sozialhilfe als umfassendes System wurde nicht aufgelöst, sondern im Wesentlichen in zwei Bereiche geteilt: die neue Bedarfsorientierte Mindestsicherung und die (alte) Sozialhilfe für BewohnerInnen stationärer Einrichtungen. Es ist eine Ironie der politischen Entwicklung, dass die Entstigmatisierung der Sozialhilfe Beziehenden – überwiegend BewohnerInnen von Senioreneinrichtungen – gelungen ist. Währenddessen ist die Mindestsicherung ins Zentrum der Kritik, der Einsparungspläne und Neiddebatten gerückt. LeistungsbezieherInnen der Sozialhilfe sind überwiegend SeniorInnen und offensichtlich steht diese Bevölkerungsgruppe nicht so im Zentrum kritischer Diskussionen. Die Sozialhilfemittel decken teilweise die Heimkosten ab und gehen damit an Gemeinden, Sozialhilfeverbände und große Sozialinstitutionen. Dies wird gesellschaftlich offensichtlich positiver bewertet, als Menschen mit Armutserfahrung in finanziellen Notlagen Mindestsicherungsleistung zu gewähren.
Nicht nur die vielfältigen Kürzungsideen zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung sind abzulehnen, sondern auch das Schaffen zusätzlicher Kategorien von nur eingeschränkt oder nicht mehr leistungsberechtigten Personengruppen. Dies würde zu zusätzlicher Stigmatisierung und Ausgrenzung führen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt gerät letztendlich in Gefahr. Gerade benachteiligte Gruppen sind von diesen Ausgrenzungsmechanismen besonders bedroht. Für Menschen mit Beeinträchtigungen bedeuten diese Diskussionen aktuell eine große Verunsicherung.
Norbert Krammer ist Bereichsleiter bei VertretungsNetz-Sachwalterschaft, Mitglied im Armutsnetzwerk OÖ und Teil der BMS-Monitoring-Gruppe der Armutskonferenz.