„Arbeit ist das halbe Leben“ – sagt der Volksmund und betont damit, dass Arbeit in unserem Leben eine zentrale Rolle einnimmt. Liegt der Volksmund damit richtig? Wie wichtig ist Erwerbsarbeit tatsächlich für den Menschen? Und wäre ein Leben ohne die Belastungen, die mit Arbeit einhergehen, nicht besser für uns? ein Beitrag von Barbara Stieglbauer. Klicken sie diesen Link, um den ganzen Beitrag zu lesen.
Stellen Sie sich vor, Sie haben im Lotto gewonnen …
Erwerbsarbeit ist für die meisten Menschen notwendig, um den Lebensunterhalt bestreiten oder einen gewissen Lebensstil aufrechterhalten zu können. Internationale Forschungsgruppen beschäftigen sich daher seit längerem mit der Frage, ob Menschen weiterhin arbeiten würden, wenn sie auch ohne Arbeit genug Geld für ein komfortables Leben hätten (z.B. weil sie im Lotto gewonnen haben). Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen durchgehend, dass die Mehrheit ihre Arbeit fortsetzen würde. Ein ähnliches Bild zeichnete sich in Studien mit tatsächlichen Lotto-GewinnerInnen ab.
Mehr als die Hälfte setzte ihre Arbeit in unveränderter Form fort, einige änderten ihr Arbeitsverhältnis (z.B. Teilzeit, Arbeitgeberwechsel), aber nur etwa 10% beendeten die Erwerbsarbeit vollständig. Arbeit scheint daher zusätzlich zu der finanziellen Funktion noch weitere wichtige Funktionen zu erfüllen.
Die „Vitamine“ der Arbeitswelt
Menschen haben neben physiologischen Bedürfnissen (z.B. nach Sättigung oder ausreichend Schlaf) auch sozialisationsbedingte Bedürfnisse (z.B. nach sozialen Kontakten, Anerkennung oder Selbstverwirklichung). Die Befriedigung dieser sogenannten psychosozialen Bedürfnisse ist ebenfalls wichtig für die Gesundheit, und Erwerbsarbeit bietet gute Möglichkeiten um diese Bedürfnisbefriedigung zu erreichen. Peter Warr, ein bekannter Forscher zu diesem Thema, hat hierzu folgenden Vergleich angestellt: So wie Vitamine in der Nahrung wichtig für die körperliche Gesundheit sind, unterstützen bestimmte Faktoren der Arbeitswelt die psychische Gesundheit.
Das finanzielle Einkommen ist eines dieser zentralen „Vitamine“ der Arbeitswelt. Darüber hinaus wurden in der Forschung eine Reihe weiterer „Vitamine“ identifiziert. Beispielsweise schafft Arbeit Orientierung, indem sie Tages-, Wochen-, Jahres- und ganze Lebensabläufe zeitlich strukturiert. Arbeit ermöglicht auch soziale Kontakte außerhalb der eigenen Familie, und die Erledigung von Arbeitsaufgaben führt dazu, dass neue Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben und Gefühle von Kompetenz erlebt werden. Außerdem kann durch die eigene Arbeits-
leistung ein nützlicher Beitrag für die Gesellschaft geleistet werden. All dies begünstigt es, soziale Anerkennung zu bekommen und unterstützt Menschen schlussendlich bei der Entwicklung ihrer Identität.
Erwerbsarbeit stellt folglich einige Rahmenbedingungen oder „Vitamine“ bereit, die es Menschen erleichtern ihre physiologischen und psychosozialen Bedürfnisse zu befriedigen. Diese „Vitamine“ sind auch mitverantwortlich dafür, dass Arbeit einen so zentralen Stellenwert in unserem Leben einnimmt.
Wenn Menschen ihre Arbeit verlieren …
Verlieren Menschen ihren Arbeitsplatz, so verlieren sie auch eine bedeutende „Vitamin“-Quelle. Welche Auswirkungen der Verlust des Arbeitsplatzes hat, wurde sehr eindrucksvoll in einer umfangreichen Feldstudie bereits Anfang der 1930er Jahre durch die Forschungsgruppe um Marie Jahoda untersucht. Das Forschungsteam beobachtete und befragte Menschen in der Arbeitersiedlung Marienthal, die durch eine Fabrikschließung arbeitslos geworden waren, und konnte zeigen, dass sich die psychische Gesundheit dieser Menschen deutlich verschlechterte. Mittlerweile gibt es international zahlreiche Untersuchungen, die zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind: Erwerbslose weisen im Vergleich zu Erwerbstätigen ein geringeres Wohlbefinden und Selbstwertgefühl und mehr depressive und psychosomatische Symptome auf. Finden erwerbslose Personen eine Anstellung, so verbessert sich ihr Wohlbefinden wieder.
Finanzielle Einbußen können die Verschlechterung der psychischen Gesundheit infolge von Arbeitslosigkeit nur teilweise erklären. Ebenso verantwortlich dafür ist der Verlust psychosozialer Faktoren: Erwerbslosen Personen fehlt häufig die zeitliche Strukturierung ihrer Tage, eine sinnvolle Beschäftigung, aber auch soziale Kontakte und Anerkennung. Und da sich vor allem Menschen in der westlichen Welt stark über ihre Arbeit definieren, geht für sie mit dem Verlust der Arbeit eine wichtige Grundlage für die eigene Identität verloren.
Natürlich ist Erwerbsarbeit nicht die einzige „Vitamin“-Bezugsquelle. Psychosoziale Bedürfnisse können zu einem gewissen Grad auch durch Freizeit- oder Familienaktivitäten befriedigt werden. Allerdings dürfte – bisherigen Studienergebnissen zufolge – Erwerbsarbeit jene Quelle sein, die die Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse am besten und vor allem kontinuierlich über die Zeit hinweg sicherstellt.
Die andere Seite der Medaille
Auch wenn Erwerbsarbeit grundsätzlich eine wichtige „Vitamin“-Quelle ist, so unterscheiden sich Arbeitsplätze darin, wie viele „Vitamine“ sie enthalten. Außerdem birgt jeder Arbeitsplatz „Inhaltsstoffe“, die weniger förderlich für die Gesundheit sind. Diese sogenannten Stressoren verursachen nicht zwangsläufig Krankheiten – ähnlich wie ein Stück Schokolade noch keine Karies verursacht. Treten die Stressoren jedoch kontinuierlich und in hoher Intensität auf, stellen sie eine Gefahr für die Gesundheit, aber auch für die Leistungsfähigkeit der Erwerbstätigen (und somit für den Erfolg eines Unternehmens) dar.
Um zu beobachten, wie sich die „Vitamine“ und Stressoren entwickeln, wird seit 1990 europaweit alle fünf Jahre eine systematische Erfassung der Arbeitsbedingungen durchgeführt. Die Ergebnisse der letzten Erhebung im Jahr 2015 zeigen, dass einer der stärksten Stressoren der heutigen Zeit die „Arbeitsintensivierung“ ist. Ein Drittel der Erwerbstätigen der EU arbeitet (fast) durchgehend unter starkem Termindruck und in hohem Arbeitstempo und hat insgesamt kaum genug Zeit seine Arbeit zu erledigen. 45% erledigen Arbeitsaufgaben auch in ihrer Freizeit, 10% machen dies sogar mehrmals wöchentlich bis täglich. Dazu kommt, dass immer weniger Erwerbstätige das Gefühl haben, ihre Arbeit gut gemacht zu haben. Im Jahr 2005 hatten noch 51% dieses Erfolgsgefühl, fünf Jahre später nur mehr 45%, und im letzten Jahr nur mehr 40%. Nicht zu unterschätzen sind auch soziale Stressoren – so berichteten im letzten Jahr 16% Opfer von Gewalt, Mobbing oder sexueller Belästigung am Arbeitsplatz gewesen zu sein. All diese Stressoren treten verstärkt bei jüngeren Erwerbstätigen auf.
Und was bringt die Zukunft?
Obwohl einige Stressoren in den letzten Jahren zugenommen haben, so haben sich Arbeitsplätze seit Beginn der Industrialisierung in vielerlei Hinsicht zum Positiven entwickelt. Insgesamt betrachtet sind Arbeitsplätze im Vergleich zu früher weniger gesundheitsgefährdend und förderlicher für das psychosoziale Wohlbefinden und die Persönlichkeit. Beispielsweise nehmen Arbeitsbedingungen, die ungünstige Körperhaltungen erfordern, kontinuierlich ab; ein hoher Prozentsatz der Erwerbstätigen hat mittlerweile unterstützende Vorgesetzte, Kolleginnen und Kollegen, sowie Möglichkeiten der Mitbestimmung und Mitgestaltung des eigenen Arbeitsplatzes. Entwicklungen der Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen es, Arbeit in zeitlicher und örtlicher Hinsicht flexibler gestalten zu können. Dies hilft Arbeits- und Privatleben besser „unter einen Hut“ zu bringen, führt aber auch zu einer Auflösung der Grenzen zwischen diesen Lebensbereichen.
Gesellschaften ändern sich und somit auch Arbeitsbedingungen. Unsere Gesellschaft entwickelt sich zunehmend zu einer „Multi-Optionsgesellschaft“ – Alles ist bzw. wird möglich. Viele Wahlmöglichkeiten zu haben, ist etwas, das die meisten Menschen schätzen, das aber auch zu Überforderung führen kann. Je mehr Möglichkeiten bestehen, umso mehr Entscheidungen müssen getroffen werden und umso eher laufen Menschen Gefahr, darüber nachzugrübeln, ob sie denn tatsächlich die „beste“ Entscheidung getroffen haben. Eine der Aufgaben der unmittelbaren Zukunft liegt daher sicher darin, Strukturen und Orientierungshilfen zu schaffen, die es Menschen erleichtern, mit den vielen Möglichkeiten umzugehen.
Ist Arbeit nun „das halbe Leben“? – Auch das können (oder müssen?) viele Menschen immer häufiger für sich selbst entscheiden.
Barbara Stieglbauer: Studium der Psychologie an der Paris Lodron Universität Salzburg, Promotion an der Johannes Kepler Universität Linz. 2008 Psychologin an der Christian-Doppler-Klinik Salzburg; 2013 Arbeitspsychologin beim Arbeitsmedizinischen Dienst in Linz; 2009-2015 Projekt- und Universitätsassistentin und seit 2015 Assistenzprofessorin an der Abteilung Arbeits-, Organisations- und Medienpsychologie der Universität Linz (Forschungs- und Lehrtätigkeit); seit 2014 auch Lehrtätigkeit an der FH Hagenberg.
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Dieser Beitrag ist im RUNDBRIEF April 2016 erschienen. Der Rundbrief ist eine Monatszeitung mit sozialpolitischen Themen, Informationen aus der Sozialszene sowie aktuellen Veranstaltungs- und Fortbildungstipps, Herausgeberin ist die Sozialplattform OÖ.