Armut in Österreich. Eine kritische „Bestandsaufnahme“

Seit einigen Jahren hat sich bei uns eine so genannte „Armutsberichterstattung“ etabliert, die den Anspruch trägt, ein adäquates Bild des Ausmaßes von Armut und sozialer Ausgrenzung und ihrer Verlaufstendenzen zu zeichnen. Ihr zufolge waren 2014 etwa 1.185.000 Menschen armutsgefährdet, in etwa 336.000 Menschen manifest arm. ein Beitrag von Helmut P. Gaisbauer und Elisabeth Kapferer

Diese Kerndaten stehen für ein komplexes sozialstatistisches Instrumentarium, mit dem die zuständige Ministerialbürokratie im Problemfeld Armut Daten erheben lässt. Dieser Ansatz ist wichtig und bedeutete bei Einführung einen großen Fortschritt, weil er regierungsamtlich sichtbar und diskutabel machte, was zuvor geleugnet wurde: dass es auch bei uns wieder Armut gibt. Heute aber liegt eine Gefahr in diesen Zahlen, Daten und Statistiken. Sie liegt etwa darin, dass wir vorschnell glauben, genau zu wissen, wo wir stehen. Die Fehlannahme ist, dass mit der Erhebung der Zahlen das Problemfeld Armut ausreichend ausgeleuchtet ist und armuts- und sozialpolitische Maßnahmen hinreichend, so gut als eben möglich, Armut bekämpfen. Beides ist falsch. Ein Beispiel: Wieviel wohnungs- und obdachlose Menschen gibt es in Österreich? Wie viele davon sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren? Wo sind diese Menschen untergebracht, was sind ihre Hauptproblemlagen? Haben sie Zugang zu medizinischer Versorgung? Diese und weitere Fragen müssen unbeantwortet bleiben. Denn: es gibt dazu keine amtliche Erhebung, obwohl von engagierten Hilfseinrichtungen seit langem gefordert. Zudem gilt für die EU-SILC-Erhebung, die die europäische Armutsstatistik hervorbringt, dass gerade auch wohnungs- und obdachlose Menschen sowie institutionell untergebrachte Menschen nicht miterfasst sind, was die Ergebnisse nicht unwesentlich beeinflusst.

Dennoch haben die Zahlen unbestreitbaren Wert, und dieser liegt zum Beispiel darin: ein drängendes gesellschaftliches Problem in seinem Ausmaß einzuschätzen und zur Handlung, zur Reaktion anzustoßen. Aus unserer Sicht etwa sind Armutsstatistiken Startpunkte für die Armutsforschung, nicht deren Endergebnis; sie sind Anlass Debatten zu eröffnen, nicht Grund zur Annahme, dass damit alles seine Ordnung hat.

Eine zweite Gefahr solcher „Armutszahlen“ besteht darin, ein weit verbreitetes Gesamtphänomen mit unterschiedlichsten Dimensionen – angefangen von Gesundheitsversorgung, guter Kindheit und gelingendem Lernen, von psychischer Dauerbelastung, von drohendem Wohnungsverlust, von Beschämungen und Erniedrigungen bis hin zum Rückzug aus sozialen Beziehungen und dem Kampf gegen das Aufgeben eines druckvollen Überlebenskampfes – als ein „Problem“ zu sehen, das quantifizierbar wäre und auf einfachem Wege auch gelöst werden könnte, so wie man einen liegengebliebenen Wagen reparieren kann. Eine Variante eines solchen reduktionistischen Denkens ist die Frage, wieviel Armut eine Gesellschaft verträgt. Im Hintergrund steht die Annahme, dass Armut, etwa in Form von Armutsbekämpfungsmaßnahmen, Geld kostet, und dass höhere Armutszahlen das Sozialbudget sprengen könnte.

Stellen wir uns dennoch der Frage: Wieviel Armut verträgt Österreich?

Eine lapidare Antwort auf diese Frage wäre: soviel, wie es sich leisten will. Wie die Frage ist auch die Antwort vielschichtig und lässt verschiedene Deutungen zu.

Zunächst: Armut ist kein Verhängnis. Dass Menschen zu wenig Mittel haben, ein würdevolles Leben zu führen, ist nicht einem unabwendbaren Schicksal geschuldet, sondern „Nebenprodukt“ einer konkreten, politisch geregelten Weise des Wirtschaftens und des sozialen Zusammenlebens.

Wenn unter Armut Mangel an Zugang zu Lebenschancen verstanden wird, so ist nicht einsehbar, warum nicht allen Menschen diese grundlegenden Zugänge – zumindest auf einem menschenwürdigen Grundniveau – gewährt und gesichert werden sollten: Zugang zu gesunder Ernährung, ausreichendem Wohnraum, Zugang zu Bildung und Gesundheitsdienstleistungen u. a. m.

Wovon sprechen wir konkret, wenn wir von Armut sprechen? In wohlhabenden Gesellschaften sprechen wir von Mangel an verfügbaren Mitteln, um grundlegende Ausgaben tätigen zu können. Wir sprechen vom Verlust der eigenen Wohnung, wir sprechen von der Unmöglichkeit, teure Zusatzausgaben für medizinische Bedarfe zu tätigen, z. B. für eine neue Hörhilfe. Armut bedeutet Verlust von Spielräumen und Handlungsmöglichkeiten, Armut bringt das Gefühl mit sich, immer weniger über das eigene Leben bestimmen zu können und Fremdbestimmung zulassen zu müssen, will man Hilfe erlangen. Armut macht einsam, weil die Entdeckungsangst Armutsbetroffene alles tun (und vermeiden) lässt, damit ihre Situation nicht ruchbar wird. Armut macht verwundbar und krank, weil der psychische Druck steigt, die eigene Handlungsfähigkeit und die Möglichkeiten, das Leben gegen Risiken zu sichern, sinkt. Armut macht klein, weil die Selbstachtung sinkt und Möglichkeiten, sich selbst Respekt zuzusprechen, verloren gehen: mit den Möglichkeiten, eigene Leistungen zu vollbringen und Fähigkeiten zu entwickeln, geht der Sinn für die eigenen Qualitäten verloren. Armut macht auch klein, weil der persönliche Stolz gebrochen wird – etwas, das „Hindernis-Selbstrespekt“ genannt werden könnte: die Qualität, anderen in den Handlungsweg zu treten und sich selbst dabei als Quelle legitimer Ansprüche an das Gegenüber zu behaupten. Undine Zimmer hat berührend Zeugnis vom Kampf um Hindernis-Selbstrespekt gegeben: „Das ist vielleicht das Schwierigste daran, ein Kind von Beitragsempfängern zu sein: dass man seine Eltern hilflos und gedemütigt erlebt. Es ist schwer, […] sich in der Welt einen Platz zu schaffen, wenn diejenigen, die dir zeigen sollen, wie das geht, selbst keinen Platz haben.“ Insgesamt stellt damit Armut auch einen Mangel an Möglichkeiten und Zugängen zu persönlichem, innerem Wachstum dar – eine Dimension, die selten zur Sprache kommt.

Hintergrund dieser psychischen und seelischen Komponenten, die häufig mit Beschämung und Erniedrigung zu tun haben, ist ein kollektives Phänomen: Von Armut Betroffene müssen sich ihrer Armut schämen, weil Armut bei uns fast ausschließlich und im Kern als Ergebnis individuellen Versagens begriffen wird. Wer nicht zu Rande kommt, ist selbst schuld. Statt strukturelle Ursachen von Ungleichverteilung und Deprivation gelten zu lassen, werden die Opfer dieser ungerechten Strukturen selbst für ihr Leiden verantwortlich gemacht.

Dieses Armutsstigma wirkt nicht nur als Außenzuschreibung, sondern bringt auch eine verheerende Wirkung bis ins Innerste der Person der Betroffenen mit sich: sie können nicht anders, als diese Sichtweise übernehmen, teilen sie doch mit der Mehrheitsbevölkerung die zugrundeliegenden Werte von Fleiß, Strebsamkeit usw., die sich – so die fatale „Erzählung“ – in (monetärem) Erfolg manifestieren. Und wenn Betroffene dieser Internalisierung zu entkommen drohen, tut die Armutsverwaltung häufig das Ihrige dazu, sie zu beschämen.

Empörend daran ist: das gesellschaftlich durchgesetzte Armutsstigma verursacht einen Gutteil des Leidens an Armut und führt auf vielen Ebenen dazu, dass Betroffene resignieren, sich zurückziehen, ihren Glauben an sich und ihre Selbstachtung verlieren. Es trägt damit selber kräftig dazu bei, Armut zu verfestigen.

Was bedeutet das für Wege aus der Armut?

Diese sind so vielfältig wie die Lebenslagen der Betroffenen. Klar ist, dass Armut nicht einfach wie ein Beinbruch geheilt werden kann. Der Kampf gegen Armut ist jedenfalls ein Kampf um Selbstachtung und Selbstvertrauen, ein Kampf gegen das Armutsstigma. Individuell wird persönliche Begleitung eine besondere Rolle spielen können. Auf gesellschaftlicher Ebene wäre am meisten damit zu gewinnen, dem Armutsstigma den Stachel zu ziehen und über großzügigere Formen der Umverteilung nachzudenken. Bankenrettungen haben unglaubliche Summen mobilisiert; ob sich unsere Gesellschaft daneben Armut in einem so endemischen Ausmaß leisten möchte, wäre hier die Frage. Eine US-amerikanische Studie hat ergeben, dass das Leben eines Obdachlosen der öffentlichen Hand in etwa eine Million Dollar an Kosten verursacht – ein Bruchteil des Geldes reichte, um den Betroffenen in eine menschenwürdige Existenz zu helfen. Vom verhinderten Leid und der Strahlkraft einer Gesellschaft mit menschlichem Antlitz auch gegenüber den Armutsbetroffenen wäre gesondert zu sprechen. Hierin liegen auch Antworten auf die Frage verborgen, warum egalitärere Gesellschaften für alle Mitglieder der Gesellschaft besser wären, als solche mit groben Ungleichheiten in den Lebensmöglichkeiten.

All die angesprochenen Zusammenhänge drohen hinter den Zahlen und Statistiken verloren zu gehen, wenn wir nicht den Blick schärfen und die entscheidenden Räume auch für die Stimmen der Betroffenen öffnen, im Sinne eines Kampfes gegen das Armutsstigma und für eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz, die Menschen in Not helfend und unterstützend gegenübertritt.


Elisabeth Kapferer
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg (ZEA).
Foto: ifz Salzburg, Kolarik


Helmut P. Gaisbauer
Senior Scientist Mitarbeiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg (ZEA).
Foto: ZFL, Universität Salzburg


Dieser Artikel ist im Rundbrief, der Monatszeitung der Sozialplattform OÖ, im Oktober 2015 erschienen

Foto: ©blvdone-Fotolia.com

Sozialplattform

Die Sozialplattform ist ein regionales Netzwerk von Sozialeinrichtungen in ganz Oberösterreich, das 1985 gegründet wurde. 38 Vereine und gemeinnützige Unternehmen sind zurzeit Mitglied. Vernetzung, Service, Information und Vertretung für eine starke und aktive Sozialszene in OÖ. www.sozialplattform.at