Österreich hat mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2008 ein wichtiges Signal zur Weiterentwicklung gleichberechtigter Teilhabe aller Menschen gesetzt. Dieser Vertrag verpflichtet den Bund, alle Bundesländer, Städte und Gemeinden zur Umsetzung und damit Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Beeinträchtigung.
ein Beitrag von Norbert Krammer, VertretungsNetz – Sachwalterschaft
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Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft: Dieses Postulat führt Artikel 19 UN-BRK bereits im Titel und legt in den Ausführungen eine Reihe von Selbstverpflichtungen fest. Menschen mit Beeinträchtigung müssen beispielsweise die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort selbst zu wählen und entscheiden zu können, mit wem sie dort leben. Gemeindenahe Einrichtungen müssen zugänglich und die Persönliche Assistenz gewährleistet sein. Mit diesem Bekenntnis zu Autonomie und sozialer Inklusion im völkerrechtlichen Vertrag sind wichtige Ziele für die praktische Umsetzung der Sozialpolitik auf Bundes- und Länderebene skizziert.
Es geht dabei nicht um utopische Forderungen, nein, es sollen „nur“ die gleichen Rechte für alle Menschen gelten und die Behinderung von Menschen mit Beeinträchtigung beendet werden.
Bei einem Vergleich hält die Realität mit diesen hehren Zielen nicht Schritt. Menschen mit Beeinträchtigung sind beispielsweise weiterhin viel häufiger von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Dies liegt an der höheren Einkommensarmut, aber auch viele Hürden verwehren die ungehinderte soziale Teilhabe und damit Inklusion in der Gesellschaft.
Ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung ist für Menschen mit Beeinträchtigung oft nur mit Unterstützung durch soziale Dienste möglich. Hier kann mit Pflegegeld, das als Zuschuss für pflegebedingte Mehraufwendungen beantragt werden kann, die notwendige finanzielle Basis geschaffen werden.
Die letzte Novelle des Pflegegeld-Gesetzes hat durch höhere Zugangshürden bei Stufen 1 und 2 eine enorme Verschlechterung eingeführt. Kürzlich präsentierte Sozialminister Hundstorfer diesen Rückgang von rund 5.000 LeistungsbezieherInnen bei den ersten beiden Pflegegeldstufen als „Erfolg“.
Finanzielle Effekte wie Einsparungen bei den Pensionsversicherungen sind dabei unbestritten – aber genauso der erschwerte Leistungszugang, beispielsweise für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Auch ältere Menschen, die zu Hause leben und schon viel Unterstützung benötigen, – das notwendige Ausmaß laut neuer Einstufungsverordnung jedoch nicht erreichen, – müssen das Leben ohne oder mit geringem Pflegegeld meistern.
Mobile Dienste tragen ebenfalls zu selbstbestimmtem Leben in den eigenen vier Wänden bei. Diese Leistung des Chancengleichheitsgesetzes (ChG) in Oberösterreich kann ganz im Sinn der UN-BRK interpretiert werden. Die öffentlichen Proteste von Behindertenorganisationen im Herbst dieses Jahres zeigen die bestehenden Defizite auf: Mehr als 1.500 Menschen mit Behinderungen warten auf diese Mobilen Dienste! Im ÖVP-FPÖ-Arbeitsübereinkommen der gerade erst angelobten Landesregierung findet sich ein einziger Hinweis zu Mobilen Diensten, nämlich im Hinblick auf angebliche Synergieeffekte bei der Betreuung mehrerer Menschen in einem Haushalt. Aber der notwendige Ausbau, um den Bedarf zu decken, ist offensichtlich kein konkretes Vorhaben.
Als größte Herausforderung im Sozialbereich wird im ÖVP-FPÖ-Arbeitsübereinkommen die Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigung bezeichnet, die auf einen adäquaten Arbeits- oder Wohnplatz warten und sich derzeit noch „auf einer Warteliste befinden“. Als Maßnahme plant die neue Regierung, valide Planungsunterlagen durch eine Neustrukturierung des ChG-Vormerksystems zu schaffen. Wenn die aktuelle Lebenssituation der rund 3.000 Menschen mit Behinderungen, die ohne adäquate Wohnversorgung sind und sich „auf einer Warteliste befinden“, ernst genommen wird, sind noch große Anstrengungen mit entsprechendem finanziellen Einsatz notwendig. Im Arbeitsübereinkommen betonen die Regierungspartner, dass Menschen mit Beeinträchtigung bestmögliche Rahmenbedingungen für ein selbstbestimmtes Leben vorfinden sollen. Doch schon beim notwendigen Abbau der Wartelisten wird nur an bürokratische Maßnahmen gedacht!
Von Artikel 19 der UN-BRK leiten MenschenrechtsexpertInnen den Auftrag zur De-Institutionalisierung ab, also den Abbau noch bestehender Großeinrichtungen für Pflege und Betreuung. Ein zarter Versuch in diese Richtung kann in das Arbeitsübereinkommen interpretiert werden, wenn hier der flexible Wechsel von vollbetreutem auf teilbetreutes Wohnen festgeschrieben und kleinere Wohneinheiten – bis zu acht Personen bzw. bis zu acht Wohneinheiten pro Standort – genannt werden. Ein erster Schritt, aber noch zu wenig ambitioniert.
Ein klares Bekenntnis zu Persönlicher Assistenz wird im Arbeitsübereinkommen erfolglos gesucht. Obwohl schon jetzt mehr als 360 Menschen mit Behinderungen vergeblich auf Unterstützung warten und bis zur Gewährung dieser ChG-Leistung – auf der Warteliste – ausharren müssen. Gänzlich unberücksichtigt bleiben der notwendige Ausbau und die Ausweitung, da Menschen mit psychischer oder intellektueller Beeinträchtigung noch immer gänzlich und konventionswidrig von der Persönlichen Assistenz ausgeschlossen bleiben!
Leider wird damit deutlich, dass Spirit und Zielrichtung der UN-BRK nicht nachvollzogen werden, denn Persönliche Assistenz ist ein Kernbereich bei den Bemühungen, ein selbstbestimmtes Leben in der selbst gewählten Umgebung für alle Menschen zu ermöglichen.
Hier gibt es noch viel zu tun!